Donnerstag, 20. November 2014

Geschichten eines Obdachlosen in San Francisco

Es ist kalt, ich spüre die Kälte bis tief in meine Knochen. Alles tut weh. Ich schaue auf meine Uhr, es ist 6 Uhr morgens in der Tenderloin in San Francisco. Ich habe also wieder mal nur 3Std geschlafen. Schlaf kann man das auch nicht nennen. Wenn man nur mit einer dünnen Stoffdecke auf einem Stück Karton auf der Straße schläft. Es war wieder laut. Feuerwehr, Polizei, besoffene Touristen, besoffene Anwohner, Junkies, Prostituierte, Dealer. Jeden Tag die gleiche Frage in meinem Kopf, wieso passiert das mir? Ich war doch einer von den guten, bin es immer noch. Manager eines Konzerns, Betriebsrat, immer den Vorteil meiner Angestellten gesucht. Doch dann dieser Deal. Ich konnte ihn nicht ablehnen. Ich musste auch an meine Familie denken. Also nahm ich ihn an. Kurz darauf, alles weg. Faule Papiere. Ich verlor meinen Job, meine Frau nahm die Kinder und zog aus. Ich fing an zu trinken. Erst ein wenig, dann immer mehr. Verwahrloste, ging auf die Straße. Irgendwan gefiel es mir auf der Straße besser als in meiner einsamen Wohnung. Die Menschen waren kaputt und süchtig, aber das störte mich nicht. Das war ich ja jetzt auch. Und immerhin hatte ich hier Gemeinschaft. Irgendwann ging ich nur noch nachhause um mal zu duschen oder Wäsche zu holen. Dann der Brief vom Eigentümer. Ich hab die Miete drei Monate nicht gezahlt, Kündigung. Ich nahm den Brief, zerriss ihn, packte meine Sachen und schaute nicht wieder zurück. Das war vor 15 Jahren. Ich bin nicht mehr Alkoholabhängig, aber ich trinke gerne hin und wieder. Ich nehme keine Drogen. Ich hab zu viel Angst vor Tabletten oder Nadeln. Meine Frau hab ich nie wieder gesehen. Meine beiden Kinder sind Erwachsen, sie denken ich arbeite im Ausland. Hin und wieder rufe ich sie an. Es zerreist mein Herz ihre Stimmen zu hören und die Stimmen meiner Enkelkinder, die ich noch nie gesehen habe. Ich kann jetzt nicht daran denken. Schaue wieder auf die Uhr 6:15. Ich muss los. Die Schlange vor der Glide Kirche formt sich langsam. Frühstück. Glide, die Menschen sind ok, sie versuchen zu helfen. Drei Mahlzeiten am Tag, für jeden der möchte und das umsonst. Ich bin nicht wählerisch, nicht mehr. Man lernt alles zu nehmen und für alles dankbar zu sein.

Die Schlange wird länger. Der Radiomann ist gerade gekommen. Er hat einen Lautsprecher auf einem Kinderwagen montiert, hat ein Mikrofon und Musik. Er klingt wie Barry White. Er erzählt Geschichten und spielt Musik. Manche tanzen, andere stehen still in der Schlange, andere unterhalten sich. Ich schaue mich um ob ich irgendwo Jared sehe. Jared und ich sind Freunde. Wir haben uns vor 5 Jahren kennengelernt. Er kam aus Seattle hier her. Ich half ihn, er half mir. Wir passen aufeinander auf. Vor einer Woche ist er verschwunden, einfach so. Entweder er ist weiter gezogen, im Knast oder Tot. Ich weiß es nicht. Vielleicht taucht er heute auf.

Endlich 7:00 Uhr Frühstück. Ich nehme mein Frühstück und esse auf der Straße. Ich kann nicht drin sitzen. Der ätzende Gestank von Schweiss, Alkohol, Exkrementen macht mich krank. Ekelt mich an. Ich rieche auch nicht besser, aber ich versuche wenigstens einmal in der Woche zu duschen und auf mich zu achten. Rasieren, waschen, irgendwo Deo zu bekommen, ein Haarschnitt.

9 Uhr. Heute ist Donnerstag. Ich gehe zu YWAM gegenüber von Glide. eine christliche Organisation. Viele Ausländer arbeiten dort. Ich meine das nicht rassistisch, Ich sehe nur das hier Menschen aus aller Welt arbeiten. Inder, Europäer, Afrikaner, Araber, Amerikaner. Die meisten sind wirklich nett, hilfsbereit, glauben an einen, ermutigen einen, wollen für dich beten. Ich bin nicht gäubig, aber wenn man auf der Straße lebt, dann will man an das gute im Menschen glauben, auch wenn man diesen glauben eigentlich verloren hat. Ich lasse hin und wieder für meine Familie oder für Jared beten. Ich möchte nicht so gerne für mich beten lassen. Bei YWAM kann man Billard spielen, oder irgendwo in der Ecke schlafen, lesen, Klavier spielen, auf die Toilette gehen, zwei mal in der Woche duschen und einmal in der Woche einen Haarschnitt bekommen.

Heute ist Donnerstag. Heute kann man duschen. Wer zuerst kommt, hat die besten Chancen heute zu duschen. Die ersten stellen sich vor dem Gebäude an, auch ich.

9:30 Uhr Die Türen werden geöffnet und wir strömen alle zum Anmelden für die Dusche. Ich bin dritter auf der Liste. Nicht schlecht, ich freue mich auf eine warme Dusche. Ich hab frische Wäsche dabei. Die kälte ist immer noch in meinen Knochen. Jetzt muss ich aufpassen nicht einzuschlafen oder weg zu nicken. Dein Name wird aufgerufen, manchmal kommen sie zu dir und sagen dir direkt Bescheid. Aber wenn man schläft oder unachtsam ist dann verliert man seinen Platz. Das will ich nicht. Ich muss duschen. Die Mitarbeiter die nicht im Zentrum arbeiten laufen hin und her in ihr Büro. Sie sind nett. Grüßen immer oder lächeln wenigstens. Das gefällt mir. Es wird leise Gospel Musik gespielt. Mein Name wird aufgerufen. "Ross, du kannst jetzt duschen" meinen Namen höre ich nicht oft. Auf der Straße bist du der Penner, das Arschloch, das einsame Schwein, der Junkie. Aber nicht eine Person, Nicht Ross. Es tut gut meinen Namen zu hören und anerkannt und erkannt zu werden.

Um 12:00 Uhr schließt das Zentrum. Frish geduscht, rasiert und mit neuen Klamotten mache ich mich auf den Weg zu St. Anthony's. Mittagessen. Da schmeckt es ein wenig besser als bei Glide. Ich laufe die Leavenworth entlang Richtung Golden Gate. Die Straßen sind verdreckt, vermüllt. Menschen liegen auf der Straße oder blockieren sie. Auf der Leavenworth wird gedealt. Sie nennen die Straße auch "Pill Hill" "Tabletten Hügel" weil hier alles gedealt wird was man sich vorstellen kann. Von der Droge bis zum Verschreibungspflichtigen Medikament. Mir wird Morphium, Crack, Heroin, Gras, Kokain, Ecxtasy angeboten. Und das in einem Radius von 2 Blocks. Wahnsinn.

Um 14:00 Uhr lege ich mich an meinen Lieblingsort am Civic Center. Die Sonne scheint heute und es ist warm. Man kann das Rathaus sehen, die Stadtbibliothek und Touristen. Ich schlafe in der Sonne ein. Wenig später höre ich Stimmen. Hey, aufwachen. Steh auf. Komm schon oder ich muss dir nen Ticket schreiben. Die Polizei, ich wache auf, schaue zu ihnen herauf und murmel, dass ich mich fertig mache. Die meisten Polizisten sind ganz nett, machen nur ihren Job. Ich stehe auf lächel freundlich und gehe meines Weges. 16:00 Uhr: Ich bin traurig. Traurigkeit die ich mit niemandem teilen kann, weil man auf der Straße stark sein muss. Keine Schwäche zeigen darf. Doch heute möchte ich irgendwo nur weinen. Jared, hab ich immer noch nicht gefunden. Ich setze mich abseits der San Francisco Oper und lasse meine Tränen fließen. Ich hab keine Fotos meiner Familie, also male ich sie wie ich mir meine Kinder und Enkelkinder vorstelle. Ich schaue mir das Bild an, packe es in meinen Rucksack und gehe zum Eckladen. Ich kaufe eine große Dose Bier und setze mich auf die Straße. Es ist Zeit die Hoffnungslosigkeit wegzusaufen.

Ich werde heute nichts mehr essen. Um 18:00 Uhr bin ich so besoffen, dass ich kaum mehr stehen kann. Ich lege mich vor den YWAM Laden. Hier ist es sicher. Die Leute die hier arbeiten und auch wohnen jagen dich nicht davon. Im Gegenteil sie lächeln, sie bleiben stehen und reden mit dir. Sie wünschen dir Gottes Segen und meinen es auch wirklich. Manche gehen rein und kommen wenig später mit Snacks oder einer Decke raus, manchmal auch mit einer Bibel. Sie glauben an Jesus und leben es, aber sie zwingen dir den Glauben nicht auf. Sie wollen nur etwas gutes tun.

Es ist dunkel und es wird wieder sehr kalt. Wir sitzen in einem Bulk von 10 verschiedenen Menschen zusammen. Alle haben eine andere Geschichte, einen anderen Grund warum sie hier sind. Aber niemand redet groß darüber, wir sitzen zusammen und trinken, manche rauchen crack Pfeife. Ein junger Mann, Jason, ist ein talentierter Zeichner und malt alles was er so sieht oder sich vorstellt. Maya war klassische Opernsängerin. Stimme kaputt und der Rest hat seinen Lauf genommen. Und so hört man immer wieder solche Geschichten.

Um 22:00 Uhr bin ich wieder nüchtern. Ich hab kein Geld mehr, aber ich bettel nicht. Ab und zu frage ich mal ob jemand einen Quarter hat, aber ich mache das nicht gerne. Ich laufe zu Starbucks der länger offen hat. Ich möchte ihre Toilette benutzen. Ich komme rein und lächel freundlich. Aber ich sehe immer noch aus wie ein Penner, den Alk riecht man auch. Jamal kennt mich und lässt mich immer auf die Toilette. Heute schüttelt er den Kopf. Der Manager ist da, er kann mich nicht auf die Toilette lassen. Aber er schiebt mir leise einen Kaffee rüber. Klasse ich muss pissen und da schiebt er mir nen Kaffee rüber. Ich nehme ihn dankend an, immerhin ist es kalt. Er wünscht mir eine sichere Nacht und entschuldigt sich noch mal. Ich finde kein Restaurant oder Laden der mich auf die Toilette lässt. Also muss ich zwischen den Autos auf die Toilette gehen. Ich muss nicht nur pinkeln, aber ich kann es nicht mehr halten. Ich muss es tun. Ich schäme mich.

Ich lege mich um 23:00 Uhr schlafen. Jared hab ich nicht gesehen heute. Ich hoffe es geht ihm gut. Es ist wieder sehr laut. Es ist kalt, aber ich hab heute einen Schlafsack bekommen. Ich denke nach. Meine Gedanken rasen immer. Ich hoffe morgen wird es besser.

Manche werden sich fragen wieso ich mir keinen Job suche und ein neues Leben anfange. Ich arbeite hin und wieder. Aber mit der Wohnung ist es nicht so einfach. Wenn man ein Auto hat kann man eine Adresse angeben und man bekommt seinen Check und leichter einen Job. Ich weiß gar nicht mehr wie das ist in einer Wohnung zu leben. Ich bin einer von 8000 Plus Obdachlosen in San Francisco. Mein Leben ist nicht leicht, aber andere haben es schwerer als ich.

Doch jetzt wird es kalt. Manche Obdachlose die ich kenne sind letzten Winter auf der Straße gestorben, sie sind erfroren. Bitte bete für uns, denn ich weiß als Christ tust du das! Bitte bringe uns Decken oder etwas warmes zu trinken. Wir wissen das wirklich zu schätzen!

Vielen dank, dass du das tust!

Ross



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